Wie eine fast vergessene Göttin der Schlangen uns heute lehrt, das Unkontrollierbare im Leben zu respektieren
Nicht alle Göttinnen der indischen Mythologie sind strahlend und gütig. Manche sind wild, ungezähmt und unbequem – und genau deshalb so faszinierend. Eine von ihnen ist Manasā, die Göttin der Schlangen.
Manasā herrscht über das Gift und die Heilmittel. Sie ist eine Naturkraft, die nicht besänftigt oder gezähmt werden kann. Lange kämpfte sie um ihre Anerkennung im Kreis der Götter – und sie erzwang sie nicht mit Gewalt, sondern mit Geduld, Prüfungen und unerschütterlicher Hartnäckigkeit.
Besonders berühmt ist ihre Auseinandersetzung mit dem reichen Händler Chand Sadagar. Er war stolz, wohlhabend und tief gläubig – aber nur gegenüber den „großen Göttern“ wie Shiva. Eine Göttin, die aus der Erde kam und Schlangen als Gefolge hatte, schien ihm unwürdig. Also weigerte er sich, Manasā zu verehren.
Doch Manasā ließ nicht locker. Erst zerstörte sie seinen Handel, dann nahm sie ihm seinen Sohn – bis Chand sich schließlich beugen musste. Am Ende gab er ihr widerwillig die Ehre, und sie schenkte dem Sohn das Leben zurück.
Die Geschichte zeigt deutlich: Was wir ablehnen, wird umso mächtiger. Manasā steht für alles, was wir nicht kontrollieren können – Krankheit, Tod, Verlust, aber auch die Möglichkeit der Heilung. Sie erinnert uns daran, dass wir das Dunkle nicht verdrängen dürfen. Wer das Wilde, das Gefährliche, das Unbekannte anerkennt, kann darin auch Kraft, Resilienz und Heilung finden.
Im Alltag begegnet uns Manasā vielleicht nicht als Schlange, aber in jeder Situation, die uns Angst macht, die uns demütig werden lässt und uns an unsere Grenzen bringt. Statt nur gegen diese Erfahrungen anzukämpfen, können wir versuchen, sie als Teil des Lebens zu ehren – als Lehrerinnen, die uns etwas über uns selbst zeigen.
So wie Chand am Ende lernen musste, die Göttin zu respektieren, so können auch wir lernen, das Ungezähmte in unserem Leben nicht nur als Feind, sondern als Quelle der Transformation zu sehen.
Vielleicht ist genau das die eigentliche Botschaft von Manasā: Im Gift liegt auch die Medizin.