#62 Kīrtimukha – Das Gesicht am Tor der Erkenntnis
#62 Kīrtimukha – Das Gesicht am Tor der Erkenntnis

#62 Kīrtimukha – Das Gesicht am Tor der Erkenntnis

Wer einen hinduistischen Tempel betritt, hebt oft den Blick – und sieht ein furchterregendes Gesicht über dem Eingang, dem Tor der Erkenntnis.
Geweitete Augen, gefletschte Zähne, eine Mähne aus Stein.
Sein Anblick kann erschrecken – und doch ist er nicht dazu da, uns Angst zu machen.
Er soll uns erinnern.
Denn dieses Wesen heißt Kīrtimukha, „das Gesicht des Ruhms“, und seine Geschichte erzählt vom vielleicht schwierigsten aller Kämpfe: dem mit uns selbst.

Der Legende nach entstand Kīrtimukha aus dem Zorn Shivas.
Als der stolze Asura-König Jalandhara glaubte, er sei würdiger als Shiva, Parvati an seiner Seite zu haben, sandte er einen Boten mit einer anmaßenden Botschaft.
Doch der göttliche Zorn ist kein gewöhnlicher Zorn – er ist eine reinigende Kraft.
Aus Shivas drittem Auge entstieg ein Feuerwesen, halb Löwe, halb Flamme, geschaffen, um Hochmut zu verschlingen.

Als Jalandharas Bote um Gnade bat, wurde ihm verziehen – doch das Wesen blieb, brennend, hungrig, ohne Ziel.
„Wovon soll ich leben, wenn ich niemandem Leid zufügen darf?“, fragte es.
Und Shiva antwortete mit einem Lächeln:

„Dann nähre dich von dir selbst.“

So begann Kīrtimukha, sich selbst zu verzehren – bis nur noch sein Gesicht blieb, hell, wach, und frei von Gier.
Shiva segnete ihn und machte ihn zum Hüter seiner Tempel, zum Wächter der Schwelle.

Tor der Erkenntnis

Kīrtimukha wacht seitdem über jedes Tor, durch das wir das Heilige betreten wollen – nicht um uns abzuhalten, sondern um uns zu prüfen.
Er erinnert uns: Bevor wir in den Raum der Stille eintreten, müssen wir das ablegen, was uns beschwert – Stolz, Eitelkeit, Zorn, Neid.

Vielleicht ist das der wahre Sinn seines Blicks:
Nicht Schrecken, sondern Erkenntnis.
Denn auch wir dürfen lernen, uns von dem zu nähren, was wir ablegen –
und daraus Klarheit gewinnen.

Wenn du das nächste Mal einen Tempel betrittst, oder einfach einen Moment der Stille suchst, erinnere dich an Kīrtimukha:
An das Gesicht, das sich selbst verschlang,
um rein zu werden –
und zum Hüter des Göttlichen.

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